Charmant: Ode an das Titan

Erstveröffentlicht in der Herbst/Winter-Ausgabe 2024/25

Kaum ein Material verkörpert Unsterblichkeit so gut wie das silber-glänzende Element Titanium. Der Brillenhersteller Charmant hat aus dem sonst so kalten Leichtmetall die zarte Line-Art-Kollektion entworfen. Dr. Hiroyuki Tada hat acht Jahre an Titanverbindungen geforscht, bis der Durchbruch kam. Eine Aufgabe, die sein Leben und Denken nachhaltig beeinflusste.

Der Name „Titan“ stammt aus der griechischen Mythologie und bezeichnet zwölf gottgleiche Riesen. Das passt zu den außergewöhnlichen Eigenschaften des Namensvetters Titanium, eines Leichtmetalls, das insbesondere im Flugzeugbau schon früh gute Dienste erwies. Entdeckt im Jahr 1791, vergehen noch fast 200 Jahre, bis es in den 1980er Jahren als Werkstoff auch für die Brillenindustrie interessant wird. Heute ist es universell einsetzbar, dabei robust, aber verformbar und sehr gut biokompatibel. Japan ist einer der Hauptexporteure des Hochleistungswerkstoffs. Einer, der das Metall in all seinen Facetten kennt, ist der Materialwissenschaftler Dr. Hiroyuki Tada, der für den Brillenhersteller Charmant acht Jahre an der patentierten Titanlegierung „Excellence Titan“ forschte. Die Schwierigkeit bestand unter anderem darin, dass das Material seine Superflexibilität in vollem Maße entfalten sollte. Nach zahllosen gescheiterten Tests wäre das Projekt fast eingestellt worden.

Wie ein Moment in der Zeit: Die Line-Art-Kollektion von Charmant zeichnet sich durch höchste Technologie und feinstes Design aus. Eine Ode an die (Titan-)Freude.

Dr. Hiroyuki Tada, als Ihr Projekt vor dem Aus stand, baten Sie Ihren Chef persönlich um einen letzten Versuch.

Aber nicht, weil ich überzeugt war, dass wir jetzt erfolgreich sein würden. Für mich war dieser letzte Versuch das Sprungbrett zum nächsten Schritt. Das war der Meilenstein, der dazu führte, die damaligen Hindernisse zu überwinden. Das Unternehmen betrachtete ein mögliches Scheitern nie als Stillstand, sondern als eine vorübergehende Passage, und blickte stets weiter nach vorne. Dieses Mindset war vielleicht der Schlüssel zum Erfolg. Der Weg der Forschung ist nie gerade. Das Wichtigste ist, sich die Hoffnung auf eine Zukunft zu bewahren.

Wann haben Sie realisiert: „Ja, das ist es jetzt“?

Eines Abends, nach zahllosen Versuchen und Irrtümern, führte ich allein im Labor einen Test durch, als ich auf dem Monitor ein Diagramm sah, das meine Erwartungen weit übertraf. Es war eine wunderschöne Kurve, die genau die superelastischen Eigenschaften zeigte, die ich angestrebt hatte. In diesem Moment wusste ich, dass ich eine bedeutende Entdeckung gemacht hatte.

Yoshihito Sasaguch

Welche Erkenntnis hatte diese Erfahrung für Sie?

Das war ein wichtiger Wendepunkt in meinem Leben. Durch den Austausch mit Forschern hat sich meine Sicht auf die Welt und meine Herangehensweise an die Forschung von Technologien nachzudenken, sondern auch über deren Auswirkungen auf die Gesellschaft. Dabei entwickelte ich den starken Wunsch, durch meine Forschung dazu beizutragen, das Leben der Menschen zu bereichern. In Zukunft möchte ich diese Erfahrung nutzen und meine Forschung mit einer breiteren Perspektive angehen. Was ich ebenfalls gelernt habe, ist, dass es unzählige Wege gibt, solange man ein klares Ziel hat. Anstatt Hindernisse als Misserfolge zu betrachten, sollte man sie als Wachstumschancen sehen.

Yoshihito Sasaguch

Erreicht jede Forschung eines Tages ein Ende, also das beste Ergebnis?

Es ist vielmehr eine endlose Suche nach Wissen, die uns als Kompass dient. Sobald eine Frage beantwortet ist, taucht eine neue auf. Wenn die dabei gewonnenen Erkenntnisse, und seien sie noch so klein, anderen zugutekommen, ist das der größte Lohn für einen Forscher. Wir stehen auf den Schultern von Riesen und bauen auf dem Wissen derer auf, die vor uns kamen. Und wenn unsere Forschung eines Tages zur Grundlage für künftige Forscher wird und den Weg für weitere Entdeckungen ebnet, dann wäre das die größte Erfüllung.

„Fukui ist das Herz der japanischen Brillenindustrie. Titan hat einen besonderen Platz in meinem Herz, insbesondere im Kontext japanischer Kultur.“

Wie sieht man die Welt, wenn man weiß, woraus die Dinge bestehen?

Wenn wir die DNA von Materialien verstehen, können wir auch mit den Wünschen und dem Geist ihrer Schöpfer in Berührung kommen. In einer einzelnen Brillenfassung stecken Jahre der Forschung. Warum sie leicht ist, warum sie sich angenehm auf der Haut anfühlt, dahinter steht eine Geschichte. Die Fähigkeit, diese wahrzunehmen, ist die wahre Freude der Materialwissenschaft. Als diejenigen, die am Anfang der Produktion stehen, ist unsere Rolle keineswegs klein. Indem wir uns auf die Welt konzentrieren und ihr Wesen verstehen, legen wir den Grundstein für die nächste Innovation.

Zu welchem Material haben Sie eine besondere Beziehung?

Während in der japanischen Architektur traditionell Holz und Ziegel verwendet wurden, setzt sich nun auch Titan durch. So wurden zum Beispiel die Dachziegel des SensōjiTempels in ersetzt, um sowohl die Ästhetik als auch die Haltbarkeit zu verbessern. Titan verkörpert mit seiner Stärke, Leichtigkeit und seinem schönen Glanz den Geist des japanischen Bushido. Ich glaube, Titan hat das Potenzial, die Kluft zwischen Tradition und Innovation in Japan zu überbrücken. Über Brillenherstellung hinaus, hat Titan unendliche Einsatzmöglichkeiten in verschiedenen Bereichen wie Architektur und Medizin. Ich strebe danach, zu einer Welt beizutragen, in der Titan die japanische Kultur mit den Menschen in aller Welt verbindet und deren Leben bereichert.

Yoshihito Sasaguch

Dr. Hiroyuki Tada: „In der Forschung gibt es kein Gewinnen oder Verlieren. Es geht um die Reise. Meine Arbeit mit Titan hat mich den Wert dieses Ansatzes gelehrt.“

Die Line-Art-Kollektion verbindet in ihrem Design Elemente der Musik. Wie passt das zu Ihrer Forschung?

Die Suche nach Melodien in der Musik und die Entwicklung neuer Materialien haben viel gemeinsam. Musiker kombinieren Noten mit unendlichen Möglichkeiten, um Melodien zu schaffen, die beim Zuhörer ankommen. In ähnlicher Weise werden bei der Materialentwicklung verschiedene Elemente und Verbindungen kombiniert, um Materialien mit neuen Eigenschaften zu schaffen.

Gibt es eine kulturelle DNA von Materialien?

Materialien sind wie Spiegel einer Kultur. Von der Wärme der japanischen Holzarchitektur bis hin zur Stattlichkeit der europäischen Steinarchitektur verkörpern Materialien das Klima, die Geschichte der jeweiligen Region und die Werte ihrer Menschen. Heute jedoch schreitet die Globalisierung voran, und die Materialien werden weltweit immer homogener. Materialien sind nicht nur Werkzeuge, sondern auch ein wichtiges Element bei der Schaffung und Weitergabe von Kultur. Wenn wir ihre Vielfalt respektieren und neue Materialien entwickeln, können wir eine reichere Kultur aufbauen.

Fotos: Charmant, Yoshihito Sasaguchi

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