Wunderkammer Brillenschätze: Das Musée de la lunette

Erstveröffentlicht in der Herbst/Winter-Ausgabe 2024/25

Kunstvolle Fächerbrillen, Zwicker, Monokel und Lorgnetten, Brillen aus Schildkrötenpanzer, Koralle und Perlmutt – die Geschichte der Optik hat über Jahrhunderte hinweg wunderschöne Schmuckstücke hervorgebracht. Die Sublime-Eyewear-Redaktion nimmt Sie mit auf eine Zeitreise zu faszinierenden Brillensammlungen in Italien, Frankreich und Deutschland. Wie in einer Wunderkammer überraschen hier Kostbarkeiten und Kuriositäten, vom Brillenhandwerk bis zur industriellen Fertigung.

Das Jura liegt fern der vielbefahrenen touristischen Reiserouten Frankreichs. Auf den Spuren der Brillenhistorie kommt man jedoch nicht umhin, dieser Region einen Besuch abzustatten. Nur eine Autostunde von Genf entfernt liegt das Städtchen Morez, eingebettet in das Tal des Flusses Bienne, umgeben von dicht bewaldeten Hügeln und Bergen, die diese Landschaft prägen. Oasen der Ruhe für Naturliebhaber und Freizeitsportler, wie das Jura für sich wirbt. Ein bisschen Hollywood gibt es hier auch: In großen Lettern steht auf einem Hügel unweit des Musée de la lunette, des hiesigen Brillenmuseums, der Name der Stadt, die durch die Herstellung von Metallnägeln bekannt wurde.

In der staatlichen Optikschule in Morez wurde bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts das Wissen des Brillenhandwerks weitergeben, so bei der Qualitätsprüfung oder beim Bedienen der optischen Vorrichtungen zur Bearbeitung von Fassungen.

Dank des Einfallsreichtums ihrer Bewohner und deren meisterlicher Handwerkskunst entwickelte sich Morez ab dem 16. Jahrhundert zu einem bedeutenden Industriestandort. Die Uhrenindustrie entstand, bald darauf folgten Gerbereien, Leinenwebereien und Drahtziehereien. Um 1800 wurde die Brillenindustrie zur Säule der lokalen Wirtschaft. Heute gilt Morez als die „Hauptstadt der Brille Frankreichs“, historisch, aber auch bezogen auf die Gegenwart. Davon zeugt in besonderem Maße das Brillenmuseum in dessen umfangreicher Sammlung man in die faszinierende Welt der „Lunettiers“ eintaucht. In den Vitrinen sind Brillen aus verschiedenen Epochen ausgestellt.

Im Brillenmuseum von Morez können historische Sehhilfen bestaunt werden, darunter die bis in die 1920er Jahre beliebten Kneifer, erfunden und hergestellt im französischen Jura

Besonders beeindruckend ist die Sammlung, die die Entwicklung der Metallbrillen dokumentiert: Deren Geschichte beginnt 1776 mit Pierre-Hyacinthe Caseaux, einem Nagelschmied, der die erste französische Metallfassung schuf. Der Überlieferung nach besaß Caseaux eine aus England importierte Brille. Als diese unglücklich zu Bruch ging, fertigte er eine erste Metallbrille an. Sie wurde zum Startschuss für die Brillenindustrie in Morez. Caseaux’ Erbe setzte später sein Patenkind und Lehrling Pierre-Hyacinthe Lamy fort, der hier im Herzen des Jura die erste Brillenfabrik eröffnete. Zu den Sehhilfen, die – mit ein wenig Fantasie – als Vorgänger der heutigen Brillen gelten können, gehört der Kneifer. Seine Erfindung um 1840 war eine Errungenschaft, denn der Kneifer lies sich stilvoll auf den Nasenrücken schieben.

Historische Gläser, sortiert nach Dioptrien.

Ein erster zaghafter Schritt, der aus einer Sehhilfe ein Accessoire machte, das mit Eleganz und Raffinesse getragen wurde. Jede Werkstatt in Morez entwickelte ihre eigene Version des beliebten Kneifers – ungeachtet einiger Nachteile wie einer nasalen Stimme oder der eingeschränkten Atmung durch die Nase. Im 19. Jahrhundert brachten die Brillenmacher weitere Innovationen hervor, beispielsweise die „Fer-à-cheval“-Fassungen mit herunterklappbaren Sonnengläsern, die an die Scheuklappen von Pferden erinnern, und die leichten „Haarbrillen“, die weniger als 15 Gramm wogen. Ein weiterer Meilenstein in der Entwicklung der Brille zwischen Funktion und Ästhetik war der besaitete Hakenbügel um 1900. Dank der Erfindung der Bespannungsmaschine von Clément Gouverneur konnten flexible, unzerbrechliche Bügel aus geflochtenen Bronze- und Kupferdrähten hergestellt werden. Diese robusten Bügel, die zusätzlichen Tragekomfort und sicheren Halt boten, eigneten sich besonders für Kinderbrillen, ebenso als Brillen für Sportler und als Militärbrillen.

Manon Martineau vom Musée de la lunette (rechts) zeigt einer Museumsbesucherin die historischen Brillen.

Noch heute ist die Optikindustrie in Morez und im Jura das Herz der französischen Brillenproduktion. Der gläserne, moderne Museumsbau des Musée de la lunette im Zentrum der Stadt und die sorgsam kuratierte Dauerausstellung über Jahrhunderte der Brillengeschichte zeigen eindrucksvoll die Bedeutung der Brille für die Menschen dieser Region – und weit darüber hinaus. Bienvenue! Neben der Gastfreundschaft und dem Lebensgefühl der Franzosen lohnt sich fraglos ein Besuch in Morez, einem Geheimtipp für Brillenliebhaberinnen und -liebhaber und für alle, die sich für die Geschichte um Tradition, Handwerk und Brilleninnovationen interessieren.

Fotos: Musée de la lunette

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