Die Goldenen Zwanziger: Brillendesignerin Sarah Settgast

Erstveröffentlicht in der Frühjahr/Sommer-Ausgabe 2023

Berlin. Die Goldenen Zwanziger. Der Stummfilm erobert die Kinos, das Theater zeigt Bertold Brechts Dreigroschenoper. Berlins Bohème trifft sich in Kaffeehäusern, flaniert in Parks und Gärten. Historie? Erinnerungen? Nicht für die Designerin Sarah Settgast, die sich von dieser kreativen Melange zu außergewöhnlichen Brillenkreationen anregen lässt.

Eine junge Frau lustwandelt an der Seite von Buster K-aton durch den Berliner Tiergarten. Harold Lloyd lädt sie zu einer Bootsfahrt auf dem Wannsee ein. Beim Kaffeekränzchen wird über den neuesten Stummfilm von Fritz Lang geplaudert, während Superstar Josephine Baker im Federschmuck über die Berliner Revuebühne am Kurfürstendamm wirbelt. Oh, du schöne alte Zeit! Könnte Sarah Settgast auf eine Reise in die Vergangenheit gehen, hieße das Ziel: Berlin. Natürlich das Berlin der 1920er Jahre. Filme und Stars der Goldenen Zwanziger, ihre Musik, das Lebensgefühl von damals dienen der gelernten Augenoptikerin, passionierten Brillendesignerin, Buchautorin und Künstlerin als unerschöpfliche Ideenquelle für ihre Brillenkollektion aus stilvollen Vintagedesigns.

Sarah Settgast

Everlasting Vintage: Sarah Settgast liebt die „runde Brille“. Fast alle optischen Fassungen lassen sich auch als Sonnenbrille tragen.

Sarah Settgast, Ihr Herz als Kreative schlägt in Berlin. Wie kamen Sie zur Brille?

Geboren wurde ich in der bran-denburgischen Kleinstadt Kyritz. Der ortsansässige Augen-optiker bot mir eine Ausbildung an, die mich nach Berlin führte, wo ich unter anderem im Kunstbetrieb tätig war. Mein Herz schlug aber von Anfang an für die Brille und das Brillendesign. Für ein junges Brand entwarf ich die ers-ten Modelle, es war der Beginn einer andauernden, großen Liebe. 2019 machte ich mich selbstständig und fand in dem Eifeler Hersteller Hoffmann Natural Eyewear den idealen Partner für meine erste eigene Kollektion „Sarah Settgast“.

Sie pflegen Ihren Stil im Flapper-Look der 1920er Jahre! Fühlen Sie sich so?

Ich werde oft gefragt: „Wer sind Sie? Was stellen Sie dar?“. Die Antwort darauf ist: Ich bin einfach ich, Sarah Settgast. Egal, ob ich im Wald spaziere, eine Galerie besuche oder in meinem Atelier arbeite. Es gibt keine zwei Persönlichkeiten und auch keinen Masterplan, der meinen Stil, mein Gefühl für Kleidung und Design definiert. Ich folge ausschließlich meinem inneren Empfinden, meinen Emotionen.

Sarah Settgast

Woher rührt Ihre Passion für den Vintage-Stil?

Schon als Kind liebte ich die Tonfilme der UFA, die Filmmusiken, die Schlager von Willy Fritsch, Hans Albers und all der anderen UFA-Filmgrößen. Diese Erinnerung an die Filme, die Musik prägt noch heute mein Lebensgefühl, meine Leidenschaft für die Kleidung, auch für die Möbel der damaligen Zeit.

Gibt es für Sie einen Unterschied zum Begriff Retro-Design?

„Retro“ meint das Festhalten an alten Traditionen oder, in der Mode, die Nachahmung vergangener Stilrichtungen. Der Begriff „Vintage“ hingegen steht für altmodisch, für klassisch, für gebrauchte alte Möbel, Bekleidung, Bilder, Fahrzeuge oder andere Gebrauchsgegenstände, die wiederverwendet werden. Ich mag an dem Wort „Vintage“ das damit zusammenhängende Lebensgefühl. Das bedeutet, alten Dingen wieder Leben einzuhauchen. Ich trage Vintage-Kleidung, vertrete aber nicht konservative Überzeugungen und Meinungen und identifiziere mich auch nicht mit reaktionären Werten. Wir leben in einer offenen bunten Welt, um so wichtiger ist es, sich von rückständigen Meinung abzugrenzen.

Warum mögen Menschen Produkte, die eine Vergangenheit haben?

Vintage inspirierte Mode und Design stehen für Qualität, Zeitlosigkeit, klassisches Design, eine bestimmte Lebensart. Für die Wertschätzung von Gegenständen des täglichen Gebrauchs, auch von Kunst. Letztlich hat es etwas mit Dankbarkeit zu tun. Man schätzt langlebige Produkte mehr als die Kurzlebigkeit des modernen Designs unserer Wegwerfgesellschaft.

Sarah Settgast

Asta Nielsen, Gloria Swanson, Louise Brooks, Oliver Hardy, Buster Keaton, Harold Lloyd Josephine Baker, Mary Wigman – die Brillen tragen klangvolle Namen von Stars der „Goldenen Zwanziger“.

Welche Brillenformen würden Sie zu den „historischen“ Designs zählen?

Bei mir waren die Brillen stets rund! Historische Designs zeigen die Stärken der Form der runden Brille auf. Sie verlieh zum Beispiel Professor Unrat, alias Emil Jannings, in dem Marlene Dietrich-Film „Der Blaue Engel“ seinen akademischen Ausdruck. Heute würde mancher sagen: „Oh Gott, die Brille ist zu klein!“ Hätte Jannings damals mit einer Brille, wie sie Elton John trägt, am Lehrerpult gestanden, hätte ihm niemand diese Rolle abgenommen. Für ein schönes, klassisches Design sind die Einflüsse des historischen Zeitgeists sowie eine große Harmonie in der Gestaltung wichtig, ebenso wie die damals verwendeten Materialien, unter anderem Horn, echtes Silber, Gold und Perlmutt.

Wie sehr „retro“ sind Sie im Kreativprozess?

In meinem Atelier in Berlin entwerfe ich alle Fassungen. Ich arbeite noch mit Handskizzen, zeichne mit Bleistift, Füller, Pinseln, mit Farben aus meinem Aquarellkasten. Am Computer ist die Arbeit technisch und hat mit Vektoren und Winkeln zu tun, nicht mit der haptischen Auseinandersetzung der konkreten Materialien.

"Ich möchte die Menschen anregen, einen Moment lang innezuhalten, den Augenblick zu genießen und auch ein Stück meines Lebensgefühls zu verspüren.“

Ihre Brillen werden von Hoffmann Natural Eyewear gefertigt. Erzählen Sie uns mehr über diese Partnerschaft ...

Alle Fassungen entstehen in ihrer Manufaktur in der Eifel. Vorwiegend kommen Naturmaterialien zum Einsatz, die Brillen werden in aufwendiger Handarbeit produziert. Im Design- und Herstellungsprozess arbeiten wir sehr eng zusammen, die Brillenspezialisten unterstützen mich bei der technischen Umsetzung.

Berlin, der Schmelztiegel der „Golden Twenties“ liefert viele Ideen. Welchen Einfluss hat das heutige Leben auf Ihre Arbeit?

Es gibt immer wieder Dinge, die mich bewusst oder unbewusst inspirieren. Ich liebe und lebe Kunst, besuche Museen, Galerien, Opernhäuser, klassische Konzerte, Fashionshows, gesellschaftlich-kulturelle Events. Jeden Tag begegne ich diversen Menschen, die mein Leben, meine Arbeit bereichern und mir neue Impulse für mein Design liefern. Schaut man zurück auf die 1920er Jahre, da brodelte es natürlich in Berlin. Die Menschen sehnten sich nach Vergnügungen, wollten sich nicht länger den gängigen Konventionen unterwerfen. Frauen kämpften für ihre Unabhängigkeit und in der Kunst waren die Einflüsse des Jugendstils und des Art déco omnipräsent. Die ersten Bauhaus-Designs traten in das Bewusstsein und das Leben der Menschen. Die Gegensätze dieser Epoche verbanden sich zu einem zuvor nicht gekannten neuen Lebensgefühl. All diese Stilelemente finden sich in meiner Kollektion wieder.

Fotos: Stephan Zwickirsch / karoshiphoto.com