Wunderkammer Brillenschätze: Das Museo dell'Occhiale

Erstveröffentlicht in der Herbst/Winter-Ausgabe 2024/25

Kunstvolle Fächerbrillen, Zwicker, Monokel und Lorgnetten, Brillen aus Schildkrötenpanzer, Koralle und Perlmutt – die Geschichte der Optik hat über Jahrhunderte hinweg wunderschöne Schmuckstücke hervorgebracht. Die Sublime-Eyewear-Redaktion nimmt Sie mit auf eine Zeitreise zu faszinierenden Brillensammlungen in Italien, Frankreich und Deutschland. Wie in einer Wunderkammer überraschen hier Kostbarkeiten und Kuriositäten, vom Brillenhandwerk bis zur industriellen Fertigung.

Unsere spannende Reise beginnt in den majestätischen Dolomiten, einer Berglandschaft, die als Weltnaturerbe der UNESCO bekannt ist. Hier, im Valle di Cadore in der Region Venetien, treffen atemberaubende Natur und reiche Kultur, wie das Museum des Renaissance-Malers Tiziano (Museo Casa di Tiziano), aufeinander. Die Region gilt als Wiege der historischen und modernen Brillenfertigung. Im ausgetrockneten Flussbett des Piave hat sich bei Longarone die Zona Industriale gebildet – dort, wo die Brillenfabrikation noch heute die Menschen einer ganzen Region in Lohn und Brot hält. Hier begegnet man Brillenherstellern, welche die Optik-Welt prägten und prägen. Wer sich vor Ort auf eine Zeitreise begibt, muss nicht lange suchen. Zeugnisse der Optik-Geschichte begleiten einen auf Schritt und Tritt. Alte, teils verblichene Werbeschilder entlang der Straße von Belluno nach Longarone und weiter hinauf säumen das Tal und führen uns direkt in die Gemeinde Pieve di Cadore. Im Brillenmuseum (Museo dell’Occhiale) tauchen wir in die faszinierende Welt der Brille ein.

Die edlen Herren verbargen die Sehhilfe zum Einklappen gern auch unauffällig im Spazierstock.

Vor Vitrinen stehend, die Brillenfassungen aus verschiedenen Epochen präsentieren,
spüren wir die Geschichte lebendig werden. Diese Exponate, von einfachen Holzrahmen bis hin zu kunstvoll verzierten Fassungen aus Schildkrötenpanzer und Perlmutt, erzählen von Mönchen, Gelehrten, feinen Damen in der Oper und noblen Herren beim Spaziergang.

Die Brille, wie wir sie kennen, begann ihre Reise bereits im 13. Jahrhundert in Italien. Die ersten Sehhilfen mit konvexen Gläsern waren einfach, aber revolutionär. Sie halfen den Gelehrten ihrer Zeit, die Geheimnisse der Bücher zu entschlüsseln und Wissen zu verbreiten. Die ersten Brillen waren einfach konstruiert und bestanden aus zwei Brillengläsern, die in einem Rahmen aus Holz oder Horn gehalten wurden. Sie waren in erster Linie für die geistige Elite bestimmt, da sie das Lesen und Schreiben erleichterten und blieben für die breite Bevölkerung unerschwinglich. Sie symbolisierten Weisheit und Macht, wie Gemälde vor Ort eindrucksvoll zeigen.

Im 15. bis 17. Jahrhundert wurden Brillen aus den verschiedensten Metallen und selbst farbigen Gläsern gefertigt, wie hier mit Blendschutz aus eingearbeitetem Leder.

Im Mittelalter durften nur die angesehenen „Christalleri“, die Bergkristall-Handwerker, Sehhilfen herstellen. Diese frühen Brillen waren kostbar, sie bestanden oft aus Kristall oder Glasabfällen, die von venezianischen Spiegeln stammten. Geschickte Handwerker wie Goldschmiede begannen, Fassungen aus Horn, Knochen und Holz herzustellen, während Optiker und Kurzwarenhändler in den Städten und Krämer auf dem Land die Brillen verkauften. Zwischen dem 15. und 17. Jahrhundert kamen neue Materialien ins Spiel. Brillen wurden aus Eisen, Blei, Kupfer, Silber und sogar Gold gefertigt. Für den Adel gab es raffinierte Elfenbeinfassungen, während Brillen aus Leder für ihre Leichtigkeit geschätzt wurden. In den Vitrinen des Museums entdecken wir Fassungen aus Schildkrötenpanzer, Koralle und Perlmutt – beliebte Materialien im 18. Jahrhundert, als Brillen zu einem Schmuckstück für Adel und Bürgertum wurden.

Blick in eine typische Brillen-Werkstatt im Cadoretal Anfang des 20. Jahrhunderts.

Das 19. Jahrhundert brachte alternative und auch leichtere Materialien wie Aluminium und die ersten Kunststoffe wie Zelluloid und Hartkautschuk in die Brillenherstellung. Kleine Brillen mit ovalen Gläsern, Zwicker und Monokel wurden zum Zeichen der Vornehmheit. Im 20. Jahrhundert dominierten Mode und neue Materialien wie Titan, Edelstahl und Acetat die Brillenwelt. Die Brille wurde nicht nur zur Sehhilfe, sondern auch zum stilvollen Accessoire.

Die Möglichkeiten des Brillendesigns sind unendlich: Hier eine filigrane und aufwendig gestaltete Sonnenbrille aus Metall, USA, 1960er Jahre

Die Geschichte der Brillenwerkstätten im Cadoretal ist geprägt von Pioniergeist und Innovation. In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts begann die Familie Frescura aus Calalzo di Cadore mit der Verarbeitung von Horn und Knochen, aus denen vor allem Kämme hergestellt wurden. Angelo Frescura, der Jüngste der Familie, eröffnete in Padova einen Krämerladen mit Optik und gründete 1878 mit Giovanni Lozza eine kleine Fabrik in der Ortschaft Piazze, um nicht länger importierte Brillen verkaufen zu müssen. Aus dieser Firma, die in einer umgebauten Nussmühle entstand, wurde später das erste Werk des traditionsreichen Brillenherstellers Safilo. Im Brillenmuseum wird dieser Zeit ein ganzer Raum gewidmet, einschließlich eines Nachbaus einer alten Brillenschmiede – Geschichte zum Anfassen. Was oft als kleiner familiengeführter Zulieferbetrieb in einer Garage begann, entwickelte sich im Laufe der Jahrzehnte zu einer stattlichen Zahl von Brillenunternehmen im Cadoretal. Die Region wurde zur Referenz für das Brillendesign „Made in Italy“ und fortschrittliches, technisches Know-how in der Brillenherstellung.

Ein besonders kostbares Stück: Theaterfernglas aus bemaltem Porzellan mit Perlmuttbesatz, Frankreich, 19. Jahrhundert.

Nach dem Tod von Frescura übernahm der Mailänder Unternehmer Carlo Enrico Ferrari dessen Firma und modernisierte die Produktion. Ihm folgte einer der großen Pioniere der Cadoriner Brillenindustrie, Ulisse Cargnel, dem es gelang, nicht nur Fassungen herzustellen, sondern auch die Produktion von Korrektionsgläsern in der neuen Brillenfabrik „Fratelli Cargnel di Ulisse di Pieve“ voranzutreiben. Zu Beginn des Jahrhunderts war Cargnel somit das einzige Unternehmen in Italien, das komplette Brillen herstellte.

Brillenmodell aus Schildplatt mit seitlichen Kordeln, Italien, Ende des 16. Jahrhunderts.

Auch andere Brillenfabrikanten im Cadoretal begannen im 20. Jahrhundert, ihre Fassungen weltweit zu exportieren und mit renommierten Designern und Modemarken zusammenzuarbeiten. Die Brillenindustrie in der Provinz von Belluno expandierte zu einem wichtigen Wirtschaftszweig Italiens, insbesondere das Cadoretal. Die Cadoriner Unternehmen sind bis heute das Aushängeschild für eine ganze Branche und einen Brillenstyle made in Italy, der die Art und Weise, wie wir Brillen sehen und tragen, geprägt hat.

Im Brillenmuseum von Pieve di Cadore wird die Geschichte des Sehens und der Brille erlebbar.

Fotos: Museo dell’Occhiale